ADHS im Vorschulalter

Ob der Philipp heute still wohl bei Tische sitzen will? (Hoffmann, 1848)

Liebe Erzieher!

Lebhafte Kinder gehören zu Ihrem Alltag und das ist auch gut so! In der Regel ist es in diesem Alter völlig normal, dass Kinder manchmal sehr unruhig und zappelig oder leicht ablenkbar sind und es ist insbesondere bei jüngeren Kindern schwierig, normales von unruhigem und grenzüberschreitendem d.h. „expansivem“ Verhalten zu unterscheiden. Bei vielen Kindern vermindern sich solche Probleme auch wieder im Laufe weniger Monate. Daher ist es in diesem Alter auch besonders schwierig, eine AD(H)S-Diagnose zu stellen und es sollte mit einer Diagnosestellung zurückhaltend umgegangen werden. Hält das Verhalten nun allerdings deutlich länger an, stellt sich die Frage, ob das Kind nicht „hyperaktiv“ sein könnte oder eine ADHS hat.

Vielleicht geraten Sie durch die Problemverhaltensweisen eines oder mehrerer Kinder sogar manchmal an Ihre Grenzen, weil diese permanent Aufmerksamkeit fordern. Um den daraus entstehenden alltäglichen Problemen auf den Grund zu gehen, ist es wichtig, die Probleme dieser Kinder besser zu verstehen und einordnen zu können.

Störungsbild

ADHS bezeichnet eine Verhaltensstörung von Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen, die durch Auffälligkeiten in den Kernbereichen Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen, Impulsivität und ausgeprägte körperliche Unruhe (Hyperaktivität) gekennzeichnet ist. 

Im Kindergarten fallen Kinder, die von einer ADHS betroffen sind, durch ihre Unfähigkeit zu ruhigen Beschäftigungen und häufig durch ihre ausgeprägte Hyperaktivität auf. Sie können sich nicht konzentrieren und sind ständig in Bewegung. Generell lassen sich Auffälligkeiten in folgenden Kernbereichen unterscheiden:

Weitere, umfassende Informationen zu Ursachen, Symptomatik und Verlauf der ADHS finden Sie in unter Allgemeine Infos zu ADHS.

Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen

  • Abbruch von eben begonnene Tätigkeiten/Spiele, v.a. bei den Beschäftigungen, die ein schrittweise, planvolles Handeln verlangen.
  • Die Unaufmerksamkeit lässt sich bei fremdbestimmten Beschäftigungen am Tisch (z.B. Mal- und Bastelarbeiten) und auch in strukturierten Gruppensituationen (Stuhlkreis) beobachten.
  • Die betroffenen Kinder verlieren aber auch beim selbstgewählten Spiel häufig schnell das Interesse.

Impulsives Verhalten

  • Plötzliche und unüberlegte Handlungen, ohne die Folgen zu bedenken.
  • keine Geduld; kaum in der Lage, abzuwarten, bis sie an der Reihe sind.
  • Störung anderer Kinder beim Spie. Kinder mit ADHS platzen in Unterhaltungen von Erwachsenen hinein und mit Antworten heraus, bevor die Frage zu Ende gestellt ist.

Körperliche Unruhe

  • Ruhelosigkeit und Zappeligkeit auf, besondern in Situationen, in denen Ruhe verlangt wird: DIe Kinder stehen beim Essen vom Tisch auf, sie können nicht still im Sitzkreis sitzen bleiben.
  • Schwierigkeiten, ruhig zu spielen. Exzessives klettern.
  • Diese Unruhe scheint von der Umgebung oder durch Aufforderungen kaum dauerhaft beeinflussbar zu sein. Auf Ermahnungen reagieren die Kinder zunächst schon, aber schon nach wenigen Sekunden und Minuten ist die Unruhe wieder da.

Die Auffälligkeiten sind üblicherweise in verschiedenen Lebensbereichen zu beobachten - also nicht nur im Kindergarten, sondern auch in der Familie oder bei Freizeitaktivitäten. Wenn sich Kinder ihrer Lieblingsaktivität widmen, zeigen sich diese Symptome kaum, selbst wenn diese Tätigkeit ein hohes Maß an Aufmerksamkeit erfordert (z.B. beim Aufbau von einer Eisenbahn). Auch müssen nicht alle Kernsymptome gleichermaßen auftreten. So haben manche Kinder überwiegend Aufmerksamkeitsschwierigkeiten, und die Impulsivität und die Hyperaktivität sind viel weniger oder gar nicht vorhanden. Darüber hinaus gibt es eine große Variation im Schweregrad dieser Probleme.

Welche Probleme treten häufig noch auf?

Das wohl häufigste Problem, das im Kindergartenalter bei ADHS zusätzlich auftritt, sind oppositionelle und aggressive Verhaltensauffälligkeiten. Kinder mit diesen Auffälligkeiten können sich schlecht an Regeln halten. Sie geraten häufig in Streitigkeiten mit ihren Eltern und Erziehern aber auch mit anderen Kindern. Sie werden schnell wütend, sie provozieren andere und schieben die Schuld für eigene Fehler auf andere. Darüber hinaus sind sie reizbar, reagieren schnell zornig und geraten in körperliche Auseinandersetzungen. Zum Teil sind oppositionelle und aggressive Verhaltensauffälligkeiten Teil einer normalen Entwicklung; allerdings gibt es Kinder, die diese Probleme vermehrt aufzeigen als andere.

Im Vorschulalter können darüber hinaus auch noch weitere Probleme als Begleiterscheinung der ADHS auftreten:

  • in der körperlichen Geschicklichkeit haben die Kinder oft größere Probleme als andere in ihrem Alter (z.B. beim Malen, Basteln, Klettern).
  • Beim Sprechen und in der Sprache fällt es den Kindern meistens schwieriger, Laute richtig zu bilden. Sie sind schwer zu verstehen oder haben einen geringen Wortschatz.
  • Manche Kinder haben auch noch größere Schwierigkeiten, mit ihren Augen Muster zu erkennen oder sich Gesichter zu merken (z.B. Puzzles; Gedächtnisspiele).

Ein weiteres Problem kann die Ablehnung durch Gleichaltrige sein, da sie andere Kinder durch ihre Impulsivität und Hyperaktivität beim Spielen stören oder weil sie teilweise auch aggressives Verhalten zeigen. Auch die Beziehungen zu Erwachsenen sind belastet. Erziehende haben häufig Auseinandersetzungen mit dem Kind und kommen an ihre Grenzen und haben das Gefühl, das Kind nicht mehr in den Griff zu bekommen.

Durch negative Erfahrungen und Rückmeldungen leiden viele Kinder mit ADHS zunehmend an Unsicherheit und mangelndem Selbstvertrauen. Diese 'leisen' emotionalen Schwierigkeiten fallen häufig zunächst weniger auf, weil die anderen Probleme mehr ins Auge springen und mehr stören.

Wie entwickeln sich die Kinder weiter?

Mit der Einschulung kommt es meistens zu einer deutlichen Zunahme der Verhaltensauffäligkeiten, weil die Kinder plötzlich mit Anforderungen an Ruhe, Ausdauer und Konzentrationsfähigkeit konfrontiert werden, denen sie noch nicht gewachsen sind. In der Familie wird vor allem die Bewältigung der Hausaufgaben zum Problem. Obwohl sich die meisten ADHS-Kinder nicht in ihrer Begabung von anderen Kindern unterscheiden, haben viele Kinder mit ADHS schlechtere schulische Leistungen und müssen deshalb eine Klasse wiederholen. Aufgrund dieser Schwierigkeiten verlieren viele Kinder schnell die Lust am Lernen.

Mit Beginn des Jugendalters vermindert sich vor allem die körperliche Unruhe, während Aufmerksamkeitsprobleme und impulsive Handlungen häufig bestehen bleiben. Selbst im Erwachsenenalter hinein können sich diese Probleme fortsetzen und zu Schwierigkeiten in verschiedenen Lebensbereichen führen (z.B. im Berufsleben, Beziehungen). Bei anderen vermindern sich die Symptome mit Eintritt in das Erwachsenenleben.

Was kann Ihnen und dem Kind helfen?

Es gibt eine Reihe von erprobten Therapien und Unterstützungsmöglichkeiten, die Eltern von leicht ablenkbaren, impulsiven und/oder unruhigen Kindern helfen können, die Probleme in den Griff zu bekommen. Diejenigen Methoden, die auf einer Stärkung der Beziehung und den Grundprinzipien der Verhaltensänderung basieren, sind natürlich in jedem Kontext pädagogischer Arbeit, also auch für Sie, einsetzbar. Auch in Tageseinrichtungen haben sie sich in verschiedenen Studien bewährt. Ziel einer jeden Unterstützung sollte sein, neben dem Familienleben auch den Alltag in der Tageseinrichtung und später den Schulalltag des Kindes (wieder) in harmonische Bahnen zu lenken. Es geht also nicht darum, zu hoffen, dass das Kind „etwas einsieht”, oder es „von Grund auf zu verändern”. Dies ist gar nicht möglich, und mit einem solchen Ansatz können Erziehende nur scheitern.

Um die Kernprobleme von ADHS zu vermindern, können Sie

  • versuchen, ein umfassenderes Verständnis für die Probleme des Kindes zu entwickeln und die manchmal belastete Beziehung zu dem Kind zu verbessern,
  • durch mehr Wissen und genaue Beobachtung häufiger voraussehen, wie das Kind reagieren könnte, und sich auf diese Weise für schwierige Situationen besser „wappnen”,
  • die Umgebung in der Tageseinrichtung im Rahmen der Möglichkeiten an die Bedürfnisse des Kindes anpassen und
  • Ihre Strategien im Umgang mit dem Kind überdenken und gegebenenfalls optimieren.

Wie oben beschrieben, haben viele Kinder mit ADHS noch weitere Probleme. Diese zusätzlichen Probleme vermindern sich manchmal schon mit der Behandlung der hyperkinetischen Auffälligkeiten, weshalb es sinnvoll ist, zunächst diese Auffälligkeiten zu behandeln. Diese Behandlung kann niederschwellig, wie z.B. durch ein angeleitetes Selbsthilfeprogramm, oder bei intensiverer Problemausprägung durch kinder- und jugendpsychotherapeutische oder kinder- und jugendpsychiatrische Kollegen erfolgen. Das Jugendamt kann Hilfen für Familien und für Kinder bereitstellen, wenn die Familien insgesamt in der Erziehung überfordert oder durch andere Belastungen stark beeinträchtigt sind oder wenn das Kind sehr stark psychisch beeinträchtigt ist.

Für Kinder mit zusätzlichen Problemen haben sich nachgeordnet und ergänzend bewährt:

  • Ergotherapie (Beschäftigungstherapie) oder Mototherapie für Kinder mit Beeinträchtigungen in der Körperkoordination oder der Feinmotorik;
  • ergänzende psychologische (oder im Einzelfall pharmakologische) Therapien zur Behandlung zusätzlicher psychischer Probleme des Kindes.

Grundregel bei der Auswahl von Hilfsmaßnahmen für Kinder mit ADHS ist, dass die Maßnahmen dort ansetzen sollen, wo die Probleme auftreten: beim Kind selbst, in der Familie oder in der Tageseinrichtung bzw. später in der Schule.

Weitere Informationen zu wirksamen Therapieansätzen finden Sie auch unter Diagnostik, Therapie und andere Hilfsmittel.

Was kann man in der Tageseinrichtung/ im Kindergarten tun?

Bei der Veränderung der Verhaltensprobleme in der Tageseinrichtung sind Sie besonders gefordert. Durch klare Strukturen zur räumlichen und zeitlichen Orientierung, den Aufbau einer positiven Beziehung zum betreffenden Kind, durch gezielte und unmittelbare Verstärkung durch Lob und positive Konsequenzen, aber auch durch den Einsatz klarer negativer Konsequenzen bei problematischem Verhalten können Erziehende leicht ablenkbare, impulsive und/oder unruhige Kinder unterstützen und ihnen helfen, ihre Verhaltensprobleme zu begrenzen. Streben Sie einen engen Austausch mit den Eltern an. Natürlich verfügen Sie als Erzieher über Kenntnisse und Einstellungen, die es Ihnen, anders als vielen Eltern, erleichtern, schwierige Erziehungssituationen erfolgreich zu bewältigen. Es ist nur im Alltag oft schwer, diese konsequent umzusetzen.

Weitere Informationen sowie Materialien zu Interventionsmöglichkeiten, Verstärkerplänen und Strukturierungshilfen finden Sie unter Hilfreiche Konzepte und Materialien.

Was können Sie Eltern raten?

Wenn ein Kind vielfältige Verhaltensauffälligkeiten zeigt, dann ist es ratsam, in der Familie etwas zu unternehmen und zu verändern. Sie als pädagogische Fachkraft können Eltern dabei unterstützen, indem Sie diese auf Probleme aufmerksam machen und verschiedene Hilfsangebote (Beratungsstellen, Jugendamt, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, Kinder- und Jugendpsychiater, Sozialpädiatrische Zentren, Frühförderzentren) aufzeigen. 

Unter den psychotherapeutischen Verfahren hat sich für unaufmerksame, impulsive und/oder unruhige Kinder vor allem die Verhaltenstherapie bewährt, die teilweise von Beratungsstellen (z.B. Familienberatungsstellen), von sozialpädiatrischen Zentren und von Frühförderstellen, vor allem aber von niedergelassenen psychologischen Psychotherapeuten, Psychotherapieambulanzen, ärztlichen Psychotherapeuten und speziellen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten oder in Praxen für Kinder- und Jugendpsychiatrie angeboten wird. Unter dem Begriff der Verhaltenstherapie werden verschiedene psychologische Behandlungsformen zusammengefasst, die sich an die Familien, die Kindertageseinrichtungen (bzw. später die Schulen) oder die Kinder selbst richten können. Häufig werden diese verschiedenen Behandlungsformen miteinander kombiniert, um die Effekte der Therapie in den verschiedenen Lebensbereichen des Kindes (Tageseinrichtung/Schule, Familie, Freizeitbereich) zu verbessern. In umfassenden nationalen und internationalen Studien zur Untersuchung der Wirksamkeit dieser Behandlungsmethoden bei Kindern mit ADHS (auch speziell solchen im Vorschulalter) erwiesen sich die Interventionen in der Familie und der Tageseinrichtung als besonders wirksam. Die Behandlungsbausteine, die sich an das Kind selbst wenden, sind bei Vorschulkindern noch nicht gut untersucht. Es gibt jedoch beispielsweise auch in Deutschland erste Untersuchungen, die den Schluss nahelegen, dass das sogenannte „Spieltraining”, bei dem Vorschulkinder lernen, ausdauernder und intensiver zu spielen, wirkungsvoll sein kann.

Zur Vorbereitung und Durchführung eines Elterngesprächs beachten Sie bitte auch unsere Empfehlungen unter Beratung und Kooperation mit den Eltern.